Netzwerkanalyse

1. Definition

In der Netzwerkanalyse werden zuvor bestimmte Größen (z. B. Figuren, Autoren, Orte) in ihrer Beziehung zueinander als Netzwerk aus Knotenpunkten (auch als Ecke oder mit dem englischen Ausdruck Node bezeichnet) und Verbindungslinien (auch Kanten, Relationen oder auf Englisch Edges genannt) untersucht. Die Verbindungslinien können gerichtet (meist in Form von Pfeilen dargestellt) oder ungerichtet (Linien) sein. Gerade in der digitalen Netzwerkanalyse werden zur Netzwerkanalyse häufig → Visualisierungen genutzt. Dadurch treten zunächst quantitative Aspekte des relationalen Systems, in erster Linie die Anzahl von Knoten, Verbindungslinien und Verknüpfungen, deutlich hervor, die als Basis einer qualitativen Analyse dienen können. Netzwerkanalysen werden durch digitale Programme erleichtert, können aber auch manuell durchgeführt werden.

2. Anwendungsbeispiel

Sie wollen die Figurenkonstellation in E.T.A. Hoffmanns Erzähltext Der Sandmann analysieren. Die Methode der Netzwerkanalyse kann Sie dabei unterstützen. Ihre Hypothese ist, dass die Figur der Klara besonders stark mit Figuren des familiären Umfeldes vernetzt ist und dass die Verbindung dieses Unternetzwerkes zur Hauptfigur Nathanael hauptsächlich über Klara hergestellt wird. Nathanael hingegen scheint – so Ihre intuitive Beobachtung – geradezu in einem anderen Unternetzwerk gefangen zu sein: dem von den Figuren Sandmann/Coppelius/Coppola/Professor/Olimpia gebildeten, das Nathanael von anderen, positiven Sozialkontakten weitgehend isoliert. Das Gesamtnetzwerk, dass Ihre Ausgangshypothese zur Figurenkonstellation der Der Sandmann abbildet, sieht damit in etwa so aus:

Netzwerkanalyse ist eine Methode, die analog und digital durchgeführt werden kann.

Die Verbindungen zwischen den Figuren, die hier als Kanten visualisiert sind, wären hier definiert als deren Interaktionen (miteinander sprechen, einander treffen, einander schreiben usw.). Der Text liegt Ihnen in digitaler Form vor und Sie haben bereits eine Liste aller vorkommenden Figuren erstellt und markiert, wo Figuren miteinander in Interaktion treten. Diese Daten visualisieren Sie nun mit einem Netzwerkanalysetool wie z. B. → Gephi:

Digital mit Gephi erstelltes Figuren-Netzwerk

In der Analyse des Netzwerkes wird deutlich, dass Nathanael – im Gegensatz zu Ihrer Ausgangshypothese – zwar einerseits durchaus mit allen Figuren direkt vernetzt ist. Neben der Beziehung zu Klara ist vor allem die zu seiner Mutter von großer Bedeutung, aber auch mit Lothar, seinem Freund und Klaras Bruder, steht er in relativ intensivem Kontakt. Im Netzwerk zeigt sich andererseits jedoch auch deutlich, dass die Verbindung Nathanaels zu Klara die am stärksten ausgeprägte in der gesamten Erzählung ist. Aus den Vorarbeiten – unter anderem dem Versuch, ein gerichtetes Netzwerk zu erstellen – wissen Sie, dass die Stärke dieser Verbindung vor allem darauf beruht, dass es sich hierbei um eine gegenseitige Beziehung handelt. Nathanaels empfundene Liebe zu Olimpia wird zwar häufiger erwähnt als seine Gefühle für Klara, Olimpia kann aber aufgrund der Tatsache, dass sie eine Puppe ist, natürlich nur wenig zurückgeben. Bei dem Netzwerk der Figuren in Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann handelt es sich also um ein stark auf die Hauptfigur zentriertes Netzwerk. Die Grundannahme Ihrer Analyse, dass Nathanael stärker sozial isoliert ist als Klara, ist somit zunächst falsifiziert. Darüber hinaus werden Sie auf weitere Phänomene aufmerksam, die Sie in Anschlussuntersuchungen betrachten möchten. Welche Rolle spielen z. B. der Erzähler und der implizite Leser für das Figurennetzwerk? Inwiefern wirkt hier der Erzählanlass auf das narrative Gefüge ein? Eine umfassendere Netzwerkanalyse sämtlicher figuraler Instanzen kann also auch einen explorativen Zugang ermöglichen und interessantere Perspektiven eröffnen als das eher schematisch-hypothetische, manuell erstellte Netzwerk, mit dem Sie Ihre Fallstudie begonnen haben.

3. Literaturwissenschaftliche Tradition

Der Begriff des Netzwerks findet sich bereits im Grimmschen Wörterbuch aus dem 18. Jahrhundert belegt. Er wurde damals allerdings als Bezeichnung für netzartige Verzierungen z. B. von Mode oder Einrichtungsgegenständen gebraucht. Netzwerke in dem heute gebräuchlichen Sinn eines Konstrukts aus Verbindungen zwischen einzelnen Punkten sind in der Wissenschaftsgeschichte in unterschiedlichen Disziplinen belegt. Über Technik, Ökonomie, Sozialwissenschaft und schließlich Soziolinguistik gelangte der Begriff auch in die Literaturwissenschaften (vgl. Sauder 2003, 167f.).

Die literarische Netzwerkanalyse ist eine Methodik, die in unterschiedlichen Traditionen der Literaturwissenschaft verankert ist, von denen hier vier skizziert seien. Netzwerke können

  1. Figurenkonstellationen darstellen (vgl. z. B. Moretti 2011),
  2. Korrespondenzen von Autoren verbildlichen (vgl. z. B. Hildenbrandt und Kamzelak 2014),
  3. intertextuelle Bezüge aufzeigen (vgl. z. B. Bartalesi et al. 2015) oder
  4. Ähnlichkeiten literarischer Stilistik visualisieren (vgl. z. B. Eder 2017).

Auch in stärker thematisch oder kontextuell orientierter literaturwissenschaftlicher Forschung werden Netzwerke entworfen und zur Analyse herangezogen, auch wenn diese nicht immer als solche benannt werden. So untersucht beispielsweise Rieger (1985) die Machtstrukturen in Kleists Erzählungen anhand mehrerer (gerichteter) Netzwerke, die er nicht als solche, sondern als Abbildung der Familienstrukturen bezeichnet. In den letzten fünfzig Jahren wurde eine Zunahme im Einsatz von Netzwerkanalysen in zahlreichen Disziplinen u. a. in den Geisteswissenschaften beobachtet (vgl. Jannidis 2017, 147).

  1. Die Analyse der Figurenkonstellation gehört zu den grundlegenden Techniken der Literaturwissenschaft, da Figuren immer/meistens in Relation zu anderen Figuren stehen und diese Wechselbeziehungen mithilfe einer Netzwerkanalyse ermittelt sowie visualisiert werden können. Diese kann grundsätzlich sowohl manuell als auch mit digitalen Hilfsmitteln erstellt werden, bestimmte Aspekte, wie z. B. die Gewichtung bestimmter Figuren oder Relationen auf Basis quantitativer Aspekte, sind allerdings leichter mit digitalen Tools zu ermitteln (vgl. Moretti 2011). Meist wird die Analyse von Figurenkonstellationen entweder anhand von Kollokationen durchgeführt oder mittels qualitativer Kriterien der Relationen zwischen einzelnen Figuren wie z. B. Liebesbeziehungen oder Rivalität (vgl. Schneider 2003, 21). Die Analyse der Figurenkonstellation dient dazu, die Kompositionsstruktur eines Werkes besser zu verstehen (vgl. ebd., 22). Nicht immer werden zur Analyse der Figurenkonstellation Grafiken genutzt; wenn dies der Fall ist, haben sie aber häufig die Form eines ungerichteten (z. B. im Falle der Kollokationsanalyse) oder gerichteten (z. B. im Falle der Analyse von Liebesbeziehungen) Netzwerkes. Auch in interdisziplinären Forschungsansätzen konnten Netzwerke literarischer Figuren gewinnbringend eingesetzt werden. So analysieren Schweizer und Schnegg (1998) Netzwerke in Ingo Schulzes Roman Simple Stories aus ethnologischer Perspektive. In dieser interdisziplinär angelegten Studie wird unter anderem deutlich, dass sich die Figurenkonstellation im betrachteten literarischen Werk von tatsächlichen sozialen Systemen dadurch unterscheidet, dass die Figuren untereinander sehr viel stärker vernetzt sind als tatsächliche Personen (vgl. Schweizer und Schnegg 1998).

  2. Fast noch naheliegender als bei der Figurenkonstellation ist das Erstellen von Netzwerken als Analysemethode bei Korrespondenzen. Briefe sind in soziale Kommunikationsprozesse eingebunden und haben darum eine inhärente netzwerkbildende Funktion (vgl. Hildenbrandt und Kamzelak 2014, 175). Als Knotenpunkte eines Briefnetzwerkes werden die miteinander kommunizierenden Personen, die Orte, mit denen sie verbunden sind (vgl. ebd., 175) oder auch Institutionen zum Gegenstand der Betrachtung. In vielen Untersuchungen werden mehrere Aspekte gleichzeitig erforscht. Zum Beispiel untersucht Siegert sowohl Korrespondenznetzwerke als auch die Bedeutung der Postämter, die die Korrespondenz leiten (vgl. Siegert 1990). Häufig werden kommunikative Netzwerke ausgehend von einer zentralen Figur, also als sog. egozentrierte Netzwerke (mehr zum Begriff des egozentrierten Netzwerkes z. B. in Wolf 2010, 471–483), angelegt und untersucht (vgl. Widawska 2011, 129). Die Netzwerke, die sich durch Briefkorrespondenz ergeben, sind komplex, da sie unterschiedliche relationale Ebenen abbilden. In der Netzwerkanalyse werden diese Ebenen – z. B. die soziale, thematische oder räumliche Ebene – einzeln oder gemeinsam betrachtet (vgl. Hildenbrandt und Kamzelak 2014, 176). Briefnetzwerke einzelner Schriftsteller zeigen deren soziale und geografische Position und welche Funktion ihnen jeweils innerhalb eines Gefüges literarischer Kontakte zukommt. In der Netzwerkanalyse von Briefkorrespondenzen werden quantitative Aspekte in Verbindung gebracht mit Textanalysen von Briefinhalten und Selbstaussagen des Autors und dadurch mehrdeutig interpretiert (vgl. Sauder 2003). In der Literatursoziologie werden Knotenpunkte und Verbindungen eines Netzwerkes kontextuell bzw. in einem gesellschaftlichen Systemzusammenhang betrachtet. In Siegerts (1990) Analyse von Briefnetzwerken, die gänzlich ohne Visualisierung des Netzwerkes auskommt, werden z. B. Postämter zu Knotenpunkten, zwischen denen nicht nur Briefe hin- und hergeschickt werden können bzw. durch die Monopolisierung auch müssen, sondern die gleichzeitig auch die Transportwege anderer Akteure, nämlich von Personen, sind (vgl. Siegert 1990, 537). Eine weitere Besonderheit von Briefnetzwerken ist, dass die Relationen nicht nur die neutralen Werte gerichtet oder ungerichtet oder qualitative Auszeichnungen wie „freundschaftlich”, „feindschaftlich”, „tröstend”, „bittend” und viele weitere haben können, sondern dass sie Teil eines Wissenssystems sind (vgl. ebd., 550) und zum Kulturtransfer beitragen können (vgl. Widawska 2011, 130). Gerade diese Komplexität ist es, die sich auch in der Methode der Netzwerkanalyse widerspiegelt: Der systemische Charakter kann immer mitgedacht werden.

  3. In der Intertextualitätsforschung gibt es die Basisannahme, dass Texte nicht für sich allein, als abgeschlossene Systeme wirken, sondern dass sie in Bezug zu einem referentiellen Wissenssystem von Autor*innen auf der einen und von Leser*innen auf der anderen Seite stehen (vgl. Helbling 1995, 8), wobei der Leserschaft über die Interpretation der Intertextualitäten eine besondere Rolle zukommt (vgl. Pfister 1985, 20). Darüber hinaus wurde Bachtins (1979) Idee der sog. Dialogizität in dieser literaturwissenschaftlichen Traditionslinie weitergedacht; von einer Kommunikation zwischen zwei Texten hin zu einer Vielstimmigkeit, die Texte nicht nur untereinander sondern auch mit der Gesellschaft verbindet (vgl. Pfister 1985). Auch hier gibt es also die Basiskomponenten eines Netzwerkes: Knotenpunkte in Form kultureller Werke (Texte) und Beziehungen dieser Werke untereinander und/oder zu gesellschaftlichen Phänomenen, die innerhalb der Intertextualitätsforschung zum Teil ebenfalls als „Text" verstanden werden (vgl. Pfister 1985, 7). Intertextuelle Bezüge können – ähnlich wie Autorenkorrespondenzen – als egozentrierte Netzwerke modelliert werden, in deren Fokus ein bestimmtes Werk steht. Die Referenzen zu vorhergehenden Texten der Literaturgeschichte oder eigenen Werken (intratextuell) und auch innerhalb des Textes (inner- oder intratextuell) bilden ein System, das seinerseits eingebettet ist in einen übergeordneten Diskurs (vgl. Gray 2017, 127). Intertextuelle Bezüge können im literarischen Text sowohl über die Sprache als auch intermedial z. B. über Abbildungen aufgerufen werden (vgl. ebd., 128). Grundsätzlich ist es sehr schwierig, vielleicht sogar unmöglich, Intertextualität so zu operationalisieren, dass sie exakt messbar wird (vgl. Pfister 1985, 26). Jegliche Analyse, auch die mit Hilfe von Netzwerken, ist dadurch stark von heuristischen Interpretationen abhängig (vgl. ebd., 25–26).

  4. In der digitalen Forschung zum Autor*innenstil werden dagegen ganz konkrete textuelle Merkmale statistisch ausgewertet. Anhand von Kriterien wie Worthäufigkeiten können dann Texte unterschiedlicher Autoren miteinander verglichen und klassifiziert werden (vgl. Weitin, Gilli und Kunkel 2016, 107). Hier wird meist eher der Versuch unternommen, Autoren voneinander zu unterscheiden (vgl. Barth 2018, 95), statt sie wie in der Intertextualitätsforschung miteinander in Verbindung zu setzen. Allerdings können die ermittelten Zahlenwerte auch dazu dienen, Netzwerkvisualisierungen von Autoren zu erstellen, die aufzeigen, welche Autoren sich stilistisch nahe stehen. Diese können dann wiederum zum Ausgangspunkt einer Netzwerkanalyse werden (vgl. Eder 2017).

4. Diskussion

Jede Form der Netzwerkanalyse, sei sie analog oder digital unterstützt durchgeführt, bietet zunächst den Vorteil, Strukturen im Text fassbar zu machen, die nicht auf den ersten Blick sichtbar sind (vgl. Abschnitt 3). Darüber hinaus können komplexe Kontexte mit Hilfe dieser Methode besonders gut berücksichtigt werden. Grundsätzlich birgt die Methode bzw. ihre Anwendung in der Literaturwissenschaft allerdings auch nachteilige Aspekte wie z. B. eine relativ hohe Abstraktion vom Text und die Konzentration auf einzelne Aspekte desselben.

Speziell die digitale Netzwerkanalyse bietet den Vorteil, dass eine große Datenbasis berücksichtigt werden kann und dass mathematische Verfahren die Auswertung dieser Daten unterstützen. Auf dieser Grundlage können Berechnungen darüber in die Analyse einfließen, welcher Art die Verbindungen zwischen zwei Figuren sind. Es kann z. B. berücksichtigt werden, dass Nathanael in einem Verhältnis der Angst zur Figur des Sandmannes steht, dass er hingegen für Olimpia Liebe empfindet und dass die Automate Olimpia zwar in einem Schöpfungsverhältnis zum Professor steht und häufig mit Nathanael kopräsent ist, dass von ihr aber keinerlei Emotionen ausgehen. Darüber hinaus könnte abgebildet werden, dass Nathanaels Angst vor dem Sandmann größer ist als die vor dem Professor. Es können also einerseits skalare Größen mit einbezogen und andererseits komplexe Verhältnisse der Figuren untereinander abgebildet werden.

Henning zeigt anhand ihrer Analyse von Thomas Manns Zauberberg auf, dass Netzwerkanalyse versteckte soziale Strukturen in Narrativen aufzeigt und dass diese Methode dabei eine vergleichsweise hohe Präzision ermöglicht (vgl. Henning 2006, 466). Auch Moretti (2011, 4) verweist darauf, dass die vergleichsweise hohe Abstraktion einer Netzwerkanalyse besonders geeignet ist, um verborgene Strukturen sichtbar zu machen, und damit auch Vorteile hat. Wie das Anwendungsbeispiel Der Sandmann gezeigt hat, kann die Möglichkeit, eine große Datenmenge zu berücksichtigen, auch einen explorativen Zugang zu Texten ermöglichen.

Einer der größten Vorteile der digitalen Netzwerkanalyse ist die Möglichkeit, sehr komplexe Zusammenhänge und/oder sehr viele Parameter abbilden zu können. Dies birgt aber umgekehrt auch die Gefahr, dass das Netzwerk unübersichtlich und als Hilfsmittel zur Textinterpretation unbrauchbar wird. Es ist also auch für die digitale Netzwerkanalyse zunächst eine Komplexitätsreduktion und eine klare Definition dessen erforderlich, was in den Fokus der Betrachtung gerückt werden soll. Mit digitalen Hilfsmitteln erstellte Netzwerkvisualisierungen wirken selbst bei vorangegangener Konzentration auf Kernaspekte häufig noch sehr komplex; eine Tatsache, die verschleiert, dass nicht sämtliche Aspekte eines Forschungsgegenstandes wie z. B. der Figurenkonstellation des Sandmann abgebildet werden.

Der größte Nachteil der digitalen Netzwerkanalyse in der Literaturwissenschaft ist aber, dass sie stets nur eine Art der Verbindung und nur eine im mathematischen Sinne positive anzeigen kann. In unserem Beispiel Der Sandmann hat Nathanael eine ungerichtete Verbindung zu seinem Vater (Vater – Sohn). Außerdem erwähnt Nathanael seinen Vater gegenüber Lothar, was als gerichtete Verbindung visualisiert werden könnte. Da aber stets nur eine Art der Verbindung in einer Netzwerkvisualisierung angezeigt werden kann, muss hier eine Auswahl getroffen werden. Im oben genannten Beispiel fiel diese auf die ungerichtete Variante, unter der dann auch gerichtete Arten der Kommunikation subsumiert wurden. Dieser Kompromiss ist für dieses Beispiel hinnehmbar, dass aber etwas, das nicht stattfindet, auch nicht oder nur unzureichend in die Visualisierung einbezogen werden kann, ist hier von entscheidender Bedeutung. Ein zentraler Bestandteil des Erzähltextes ist, dass Nathanael nach dem ersten Zusammentreffen mit Coppelius nicht mit seinem Vater darüber spricht. Diese nicht stattfindende Kommunikation bedingt, dass die Zusammenarbeit zwischen Coppelius und Nathanaels Vater mystifiziert bleibt. In der Netzwerkvisualisierung bleibt dieses Nicht-Gespräch (das im Falle unseres Beispiels als negativer Wert einbezogen wurde, der in die Berechnung der Verbindungsstärke eingeflossen ist und somit die Verbindung zwischen Vater und Sohn geschwächt hat) verborgen.

In der digitalen Netzwerkanalyse treten quantitativ bedeutsame Phänomene besonders hervor und werden dadurch mit Bedeutung versehen. Dies bewirkt nicht nur, wie oben bereits ausgeführt, dass nicht Stattfindendes nicht oder nur unzureichend einbezogen werden kann, sondern auch, dass selten stattfindende Ereignisse weniger betont werden. Im oben genannten Fallbeispiel haben Coppelius, der Sandmann und Coppola eine von Nathanael unterstellte Verbindung, die gar nicht stärker sein könnte – er glaubt, sie seien eine Person. Der einzige Hinweis darauf, dass diese Vermutung richtig sein könnte, ist, dass die drei Figuren nie gemeinsam in Aktion treten. Dieses nicht zusammen Agieren, das auf die stärkste mögliche Verbindung hindeutet, kann aber im digital erstellten Netzwerk nicht angezeigt werden. Was sichtbar wird, ist die relativ selten von Nathanael geäußerte Vermutung, dass es sich um eine einzige Person handeln könnte, eine nicht besonders auffällig erscheinende Verbindung unter anderen.

In Verbindung mit anderen digitalen Textanalysetools kann Netzwerkanalyse als reine Distant-Reading-Methode eingesetzt werden. In diesem Falle können vollautomatisch Kanten und Verbindungen berechnet werden. Hier müssen die Parameter sehr bewusst ausgewählt und möglichst in der Analyse auch offengelegt werden. Geschieht dies nicht, so kann es dazu kommen, dass das resultierende Netzwerk zwar objektiv erscheint, dass es aber undurchsichtig bleibt, da nicht klar wird, welche Aspekte von Texten einbezogen und auf welche verzichtet wurde. Die Methode wird dann zu einer sog. Black Box, von der unklar ist, ob sie es tatsächlich vermag, Texte zu entschlüsseln, oder ob sie nicht eher Gegenteiliges bewirkt.

5. Technische Grundlagen

Die digital unterstützte Form der Netzwerkanalyse ist grundsätzlich ohne tiefgreifende technische Kenntnisse durchführbar. Bei der Erstellung einer Netzwerkanalyse gibt es unterschiedliche Verfahren, die grob in drei Ansätze unterteilt werden können.

  1. Nutzung einer Netzwerk-Visualisierungs-Software (wie z. B. → Gephi), die als Eingabemaske für im Close-Reading-Verfahren am Text festgestellte Merkmale verwendet wird. Der Computer rechnet dann lediglich die Häufigkeiten der Eingaben oder die selbst vergebenen Gewichtungen zusammen.
  2. Nutzung eines semi-automatischen Verfahrens, bei dem mit Hilfe einer anderen Software bestimmte Parameter wie z. B. Kollokation/Kopräsenz untersucht wurden, die dann manuell in ein Netzwerkanalysetool (wie z. B. → Ezlinavis) übertragen werden. Auch hier können noch Gewichtungen vorgenommen werden.
  3. Übertragung von statistischen Daten, die mit einem anderen Tool (wie z. B. des Stilometrie-Tools → Stylo) generiert wurden, in das Netzwerkanalyse-Tool, das diese Daten dann für die → Visualisierung auswertet.

Gängige Tools stellen grafische Benutzeroberflächen, Bedienungsanleitungen und Tutorials bereit und machen es möglich, Netzwerkvisualisierungen zu erstellen, ohne Programmcodes nutzen zu müssen. Allerdings sind gewisse mathematische und statistische Verfahren grundlegend, deren Kenntnis bei der Interpretation des Netzwerkes sehr hilfreich ist. Eine umfassende Einführung in diese Grundlagen finden Sie bei Jannidis (2017, 147–161). Im Folgenden seien nur einige zentrale Aspekte davon aufgeführt:

  • Graphentheorie: Ein Netzwerk ist ein Graph, der aus Knoten und Verbindungen besteht. Außer diesen beiden sind zunächst keine weiteren Parameter mit Bedeutung versehen. Es können allerdings sowohl bei den Knoten- als auch bei den Kantenelementen Bedeutungen hinzugefügt werden, dazu gehören:

    • Verbindungen: Richtung, Dicke, Länge und Farbe (um z. B. die Verbindungsstärke oder -qualität zwischen zwei Figuren zu zeigen)
    • Knoten: Größe und Farbe des Knotens, um z. B. die (quantitative) Bedeutung einer Figur innerhalb einer Figurenkonstellation hervorzuheben
  • Zentralitätsmaß: Vor allem bei egozentrierten Netzwerken ist es wichtig offenzulegen, welche Parameter einen Knoten ins Zentrum rücken. Ein wichtiges Maß für Zentralität ist z. B. die Menge der Verbindungen eines Knotens. Auch die Position zwischen zwei Teilbereichen eines Netzwerkes kann einen Knoten ins Zentrum rücken (wie in unserem Beispiel Nathanael). Nutzt man digitale Tools mit vorgegebenen Layouts, ist es wichtig zu wissen, welcher Art das zu Grunde liegende Zentralitätsmaß ist bzw. ob das Layout ein solches überhaupt verwendet (dies ist z. B. der Fall beim sog. Force Directed Network Graph).

  • Abstandsmessungen: Bei automatischen Verfahren zur Erstellung der Datengrundlage eines Netzwerkes werden häufig Algorithmen benutzt, die ermitteln, welche Knotenpunkte wie nah beieinander liegen. Dazu wird zuerst ermittelt, zu welchem anderen Knotenpunkt ein Ausgangsknoten besonders dicht steht (nearest neighbours) Dann wird einbezogen, mit welchen Knotenpunkten der Ausgangsknoten über einen anderen Knoten verbunden ist (second neighbours) usw. Die Abstandsmessungen können beliebig viele Ausgangsknoten berücksichtigen und dementsprechend komplex werden. Bei der vollautomatischen Erstellung von Netzwerkvisualisierungen kann oft ausgewählt werden, welche Relationsabstände berücksichtigt werden sollen (z. B. nur nearest neighbours).

  • Manuelle Anpassung der Visualisierung: Es gehört zu den gängigen Funktionen von Netzwerkanalysetools, dass eine Visualisierung zuerst statistisch erstellt und dann manuell nachbearbeitet wird. Dabei ist es nicht nur möglich, die unter dem Punkt Graphentheorie aufgeführten Bedeutungsebenen einzuarbeiten, sondern auch Zentralität und Abstand zu verändern. Dieser Arbeitsschritt ist essentiell für die Methode, sollte aber in dem Bewusstsein durchgeführt werden, dass damit bestimmte Aspekte der vorangegangenen Berechnungen verändert werden. Ebenso wie bei der Aufbereitung der Daten, die wie oben beschrieben in unterschiedlicher Weise durchgeführt werden kann, handelt es sich hierbei um einen interpretatorischen Arbeitsschritt. Am Ende verdeutlicht also auch das digital erstellte Netzwerk das Ergebnis einer Interpretation und macht diese nachvollziehbar (zu der nur vermeintlichen Objektivität von Visualisierungen vgl. → Textvisualisierung).

6. Nachweise

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