Tagset Narratologie (histoire)

1. Kurzbeschreibung

Das Tagset Narratologie (histoire) ist für die → Annotation narrativer Elemente in Texten geeignet. Es enthält grundlegende Kategorien für die Analyse der Geschichte (histoire, d. h. dem Inhalt der Erzählung), konkret für die Figuren- und Handlungsanalyse.

2. Anwendungsbeispiel

Angenommen, Sie haben mithilfe des → Tagsets Narratologie (discours) bereits anhand eines kleinen Korpus deutschsprachiger Novellen des 18. Jahrhunderts im Rahmen einer ersten explorativen Studie untersucht, wie sich die Erzählweise in kürzeren narrativen Texten im Laufe des Jahrhunderts verändert hat. Möglicherweise interessiert Sie nun darüber hinaus, ob sich ebenfalls Entwicklungen hinsichtlich der Figurentypen, von denen deutschsprachige Novellen des 18. Jahrhunderts erzählen, feststellen lassen. Sie können hierfür die im Tagset Narratologie (histoire) enthaltenen Annotationskategorien für die Figurenanalyse nutzen und bei Bedarf erweitern. Mithilfe geeigneter Abfragen können Sie dann beispielsweise auch untersuchen, ob möglicherweise festgestellte Entwicklungen auf discours- und histoire-Ebene der Erzählungen miteinander korrelieren.

3.  Diskussion

Wie auch im Beitrag zum → Tagset Narratologie (discours) beschrieben, handelt es sich bei der Narratologie um eine geisteswissenschaftliche Disziplin, die vornehmlich Modelle für die Analyse von Erzählungen entwickelt. Hervorgegangen aus dem russischen Formalismus und dem französischen Strukturalismus, stellen vor allem viele der früheren Arbeiten beschreibende Analysekategorien zur Verfügung, deren Anwendung weitgehend ohne Rückgriff auf textexternes Wissen oder Interpretation auskommt.

Während die von Genette (2007) im Rahmen seines strukturalistischen Ansatzes entwickelten Kategorien für die Analyse der Erzählweise immer noch häufig zur Anwendung kommen, finden detaillierte formalistisch-strukturalistische Modelle für die Analyse der Geschichte heute kaum mehr direkte praktische Anwendung. Starken Einfluss auf die theoretische Weiterentwicklung von Analysemodellen auf diesem Gebiet hat allerdings Propps Studie (1975) Morphologie des Märchens, in der er eine Taxonomie typischer Figuren und Handlungselemente für die Gattung des russischen Zaubermärchens entwickelt.

Viele der heute gebräuchlichen Arbeiten zur Analyse von Figuren und Handlung in erzählender Literatur integrieren neben strukturalistischen Elementen beispielsweise auch rezeptionstheoretische oder kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse (vgl. Margolin 1983; Margolin 1990). Der Grund hierfür liegt darin, dass Leser*innen für die inhaltliche Analyse einer Erzählung stärker auf textexternes Wissen (u. a. auf psychologisches und Genrewissen) zurückgreifen müssen. Die Figuren- und Handlungsanalyse nähert sich dadurch etwas stärker einer (inhaltsspezifizierenden) Textinterpretation an als die Analyse der Form bzw. der Präsentationsweise (vgl. Jacke 2014).

Die im Tagset Narratologie (histoire) verwendeten Kategorien für die Figurenanalyse gehen auf Aspekte der Modelle von Hansen (2000) und von Jannidis (2012), die für die Handlungsanalyse auf de Toro (1986) zurück. Die Operationalisierung der Kategorien in Form eines Tagsets für die manuelle Annotation basiert auf den Arbeiten von Gius (2015) und Modrow (2016).

Ein Teil der im Tagset enthaltenen Kategorien für die Figurenanalyse – insbesondere diejenigen für die Annotation von Figurenreferenz – können sinnvoll mit weiteren Verfahren der digitalen Literaturanalyse kombiniert werden. So kann beispielsweise für das automatische Auffinden bestimmter Formen der direkten Figurenreferenz → Named Entity Recognition verwendet werden. Sind alle Figurenreferenzen annotiert worden, können die Beziehungen zwischen Figuren sodann auch durch das Verfahren der → Netzwerkanalyse unterstützt werden.

4. Tagset

Das Tagset Narratologie (histoire) hier als XML-Datei verfügbar und kann in geeignete Tools (beispielsweise → CATMA) importiert und dort verwendet werden. Abbildung 1 zeigt die im Tagset enthaltenen Tags in ihrer hierarchischen Struktur sowie die Properties und Values.

Abb. 1: Tagset Narratologie (histoire)
Abb. 1: Tagset Narratologie (histoire)

5. Richtlinien zur Anwendung

Diese Richtlinien enthalten nur spezifische Anwendungshinweise für die Tags, die speziell für die Anwendung bei der Annotation vorgesehen sind. Im Falle der Tags für die Figurenanalyse sind das ausschließlich die Tags auf der untersten Hierarchieebene. Bei der Handlungsanalyse sind sowohl Handlungssequenz als auch Handlungssegment für die Annotation geeignet, obwohl erstere Kategorie auf einer höheren Hierarchieebene angeordnet ist. Hierarchisch höherliegende Kategorien dienen dagegen vor allem der Systematisierung.

Im Folgenden werden die einzelnen Kategorien kurz definiert – für speziell zur Annotation vorgesehene Tags werden darüber hinaus Hinweise zur Länge der annotierten Passage und zu textuellen Indikatoren angegeben sowie i. d. R. ein Beispiel.

histoire: Die hier versammelten Kategorien dienen der Analyse des Inhalts von Erzählungen. Sofern Bedarf besteht, können den Annotationskategorien jeweils noch weitere Unterkategorien zur genaueren Analyse hinzugefügt werden

5.1 Figur

Figur: Dieses Untertagset ist für die Analyse der Akteure in Erzählungen vorgesehen. Mit den im Folgenden vorgestellten Tags können Textstellen annotiert werden, in denen auf unterschiedliche Weise auf Figuren Bezug genommen wird oder Figuren näher ausgestaltet werden. Um welche Figur es in einer annotierten Passage jeweils geht, kann mithilfe der Property Figurenname festgehalten werden. Hier wird bei jeder Annotation als Propertywert der Name der relevanten Figur (oder alternativ eine andere aussagekräftige Kennzeichnung der Figur) eingefügt.

Referenzierung: Diese Kategorien für die Figurenanalyse dienen der Analyse der Bezugnahme auf eine Figur im Text.

  • Tag direkte Figurenreferenz: Eine direkte Figurenreferenz liegt vor, wenn mithilfe eines Ausdrucks explizit auf eine Figur Bezug genommen wird, beispielsweise mithilfe eines Eigennamens, einer Kennzeichnung oder eines Personalpronomens.
    • Länge der annotierten Passage: i. d. R. ein Wort oder eine Wortfolge.
    • Indikatoren: Eigennamen für Personen, Personalpronomina
    • Beispiele: „Matteo wurde krank, die bösartigsten Blattern befielen ihn, und er mußte viel leiden“ (F. Hebbel: Matteo; Property Figurenname für jede Annotation mit dem Wert „Matteo“); „die ungewohnte Pracht, die das Mädchen umgab“ (F. Hebbel: Matteo; Property Figurenname mit dem Wert „Felicita“)
  • Tag indirekte Figurenreferenz: Eine direkte Figurenreferenz liegt dann vor, wenn bspw. Anwesenheit oder Handlung einer Figur durch das Erzählte impliziert ist, also wenn beispielsweise eine Handlung (mithilfe einer Passivkonstruktion) wiedergegeben wird oder im Fall nicht-eingeleiteter Figurenrede.
    • Länge der annotierten Passage: i. d. R. Teilsätze bis Absätze
    • Indikatoren: Passivkonstruktionen, autonome Figurenrede
    • Beispiel: „und bin nun zu Hause, und die Lampe brennt, und die Zigarre ist angezündet“ (A. Schnitzler: Blumen; Property Figurenname für beide Annotationen mit dem Wert „Erzähler“)

Charakterisierung: Mithilfe dieser Tags für die Figurenanalyse kann analysiert werden, wie Figuren ausgestaltet sind und wie sie dargestellt werden.

  • Tag Aussehen: Mit diesem Tag können Passagen annotiert werden, in denen das Äußere einer Figur beschrieben wird, zum Beispiel ihre äußere Erscheinung, ihre Physiognomie oder ihre Kleidung.
    • Länge der annotierten Passage: i. d. R. mehrere Wörter bis mehrere Sätze.
    • Indikatoren: beispielsweise Wörter aus den Wortfeldern Körper oder Kleidung
    • Beispiele: „Sie war köstlicher geschmückt, als er sie zu irgendeiner Zeit, die höchsten Festtage nicht ausgenommen, erblickt hatte, ein reiches seidenes Kleid umfloß ihre edle Gestalt, und ein goldenes Kreuz, mit roten Edelsteinen besetzt, glänzte an ihrem Halse“ (F. Hebbel: Matteo; Property Figurenname mit dem Wert „Felicita“)
  • Tag Figurenhandeln: Mit diesem Tag werden Textstellen annotiert, in denen Figuren durch ihr Handeln charakterisiert werden, beispielsweise durch Motivation, Absicht oder Art der Handlung. Um festzuhalten, in welcher Hinsicht ihre Sprache sie charakterisiert, können nach Bedarf weitere Unterkategorien oder Properties eingefügt werden.
    • Länge der annotierten Passage: i. d. R. mindestens Teilsätze
    • Indikatoren: z. B. Aktionsverben
    • Beispiele: „Bei dem Krippenmacher war es immer lustig, denn er und sein Sohn, ein flinker lachender Bursche von etwa vierzehn Jahren, waren Musikanten, und wenn die Monate heranrückten, wo die Krippenmacherei ruhte, da nahmen sie ihre Geigen und spielten an Sonntagen in den kleinen Schenken der Vorstadt zum Tanze auf“ (A. Christen: Nachbar Krippelmacher; Property Figurenname mit dem Wert „Krippelmacher“)
  • Tag Charaktereigenschaften: Dieser Tag dient der Annotation von Textstellen, in denen Figuren explizit Charaktereigenschaften zugeschrieben werden, beispielsweise durch einen Erzähler, durch andere Figuren oder durch sich selbst.
    • Länge der annotierten Passage: einzelnes Wort bis mehrere Sätze
    • Indikatoren: z. B. Adjektive aus dem Wortfeld Charakter
    • Beispiele: „Matteo war ein junger Mann, der, obwohl von niedriger Herkunft, und nicht mit besonderen Talenten ausgestattet, sich durch seine Dienstbeflissenheit und sein stilles, bescheidenes Wesen angenehm zu machen und Vertrauen zu erwecken wußte“ (F. Hebbel: Matteo; Property Figurenname für alle Annotationen mit dem Wert „Matteo“)
  • Tag Sprache: Mit diesem Tag können Passagen annotiert werden, in denen Figuren durch die Sprache, die sie benutzen, oder durch den Inhalt des Gesagten charakterisiert werden. Um festzuhalten, in welcher Hinsicht ihre Sprache sie charakterisiert, können nach Bedarf weitere Unterkategorien oder Properties eingefügt werden.
    • Länge der annotierten Passage: i. d. R. mindestens Teilsätze
    • Indikatoren: Anführungszeichen, Verba dicendi
    • Beispiele: „Jastersky, der blonde Unteroffizier, schreit endlich: »Also, entweder Sie kommen herunter oder Sie klettern hinauf, Gruber! Sonst melde ich dem Herrn Oberlieutenant...«“ (R. M. Rilke: Die Turnstunde; Property Figurenname mit dem Wert „Unteroffizier Jastersky“)
  • Tag soziokulturelles Umfeld: Mit diesem Tag können Passagen annotiert werden, die der Charakterisierung einer Figur durch die Einflüsse ihres Umfeldes auf sie dienen. Dazu gehören beispielsweise Hinweise auf Herkunft, Erziehung, Sozialisierung oder die gesellschaftlichen Kreise, in denen eine Figur verkehrt.
    • Länge der annotierten Passage: mindestens Teilsätze
    • Beispiele: „Unter einem Busch, in ärmliche Decken gehüllt, hatten sie ihn gefunden. Kein Mensch wußte, wer seine Eltern waren. Da man ihn nicht verkommen lassen konnte, taufte man ihn und übergab ihn einer Alten, die für seine Pflege etliche Lire von der Gemeinde erhielt“ (M. Janitschek: Poverino; Property Figurenname mit dem Wert „Gaetano“)

5.2 Handlung

Handlung: Die hier versammelten Kategorien zur Analyse der histoire, also des Inhalts des Erzählten, sind für die Untersuchung der Handlung vorgesehen, also der Zustandsveränderungen bzw. Ereignisse, an denen typischerweise Figuren als Handlungsträger*innen mitwirken.

  • Tag Handlungssequenz: Eine Handlungssequenz zeichnet sich vornehmlich dadurch aus, dass sie aus miteinander verknüpften Ereignissen besteht, dass ihr bestimmte Figuren zugeordnet sind und sie über eine spezifische zeitliche und räumliche Dimension verfügt. Die Verwendung des Tags Handlungssequenz ist vor allem dann sinnvoll, wenn sich in einer Erzählung mehrere Handlungssequenzen finden, die sich beispielsweise abwechseln. Wann immer eine zusammenhängende Passage ausgemacht werden kann, in der von den Ereignissen einer Handlungssequenz berichtet wird, wird diese mit einer Handlungssequenz-Annotation versehen. Für jede Annotation wird für die Property Sequenzkennzeichnung ein eindeutiger Name oder eine Nummer vergeben, um die Handlungssequenz zu bezeichnen.
    • Länge der annotierten Passage: mindestens Halbsätze, typischerweise Absätze oder ganze Kapitel
    • Indikatoren: (für den Wechsel zwischen Handlungssequenzen) Worte wie „währenddessen“, „unterdessen“, „in der Zwischenzeit“; ggf. Wechsel der Fokalisierung zwischen Figuren, erkennbar an anderen vorkommenden Figurennamen; zeitlicher/räumlicher Wechsel, erkennbar u. a. an Zeitausdrücken, die größere Zeitsprünge ausdrücken, oder neuen Ortsnamen; insbesondere eine Kombination dieser Indikatoren.
    • Beispiel: „Dieses Anerbieten kam Georgen erwünscht. Ein Wort gab das andere, und mein Schelm von Diener, der an meinen Pariser Streichen großen Anstoß genommen hatte, erzählte Alles, was er von meiner dortigen Lebensart wußte, und pries sich glücklich, daß die Noth mich endlich triebe, eine so angenehme Zuflucht zu wählen. Mir aber verschwieg er aus guten Gründen Alles. Victoire, die mit der Frau desselben Kaufmanns in Paris war, erfuhr bei ihrer Zurückkunft, welche Nachrichten von dem deutschen Bräutigam eingegangen waren [...]“ (A. Kähler: Die drei Schwestern; bis „wählen“: Property Sequenzkennzeichnung mit Wert „Nebenhandlung Diener und Schwestern“ oder Zahlenwert „2“; von „mir“ bis „alles“:  Property Sequenzbezeichnung mit Wert „Haupthandlung Bräutigam“ oder Zahlenwert „1“; ab „Victoire“: Property Sequenzkennzeichnung mit Wert „Nebenhandlung Diener und Schwestern“ oder Zahlenwert „2“)
  • Tag Handlungssegment: Der Tag Handlungssegment ist ein Untertag zu Handlungssequenz. Ein Handlungssegment ist dementsprechend ein Teil einer Handlungssequenz, der einer bestimmten Handlungssequenz eindeutig zugeordnet ist. Mit dem Tag werden Passagen annotiert, die von einem einzelnen Ereignis bzw. der Einzelaktion einer Figur berichten. Besonders fruchtbar kann dieser Tag sein, um Einzelereignisse zu annotieren, denen eine besondere Relevanz für den Verlauf der dazugehörigen Handlungssequenz zugeschrieben wird.
    • Länge der annotierten Passage: mindestens ein Teilsatz, typischerweise einer oder mehrere Sätze
    • Beispiel: „Ein Wort gab das andere, und mein Schelm von Diener, der an meinen Pariser Streichen großen Anstoß genommen hatte, erzählte Alles, was er von meiner dortigen Lebensart wußte, und pries sich glücklich, daß die Noth mich endlich triebe, eine so angenehme Zuflucht zu wählen“ (A. Kähler: Die drei Schwestern; Property Segmentkennzeichnung mit Wert „Diener Georg erzählt vom Verhalten des Erzählers in Paris“ oder Zahlenwert)

6. Nachweise

  • de Toro, Alfonso (1986): Die Zeitstruktur im Gegenwartsroman: am Beispiel von G. García-Márquez’ Cien años de soledad, M. Vargas-Llosas La casa verde & A. Robbe-Grillets La maison de rendez-vous. Tübingen: Narr.
  • Genette, Gérard (2007): „Discours du récit“. In: Paris: Éd. du Seuil.
  • Gius, Evelyn (2015): Erzählen über Konflikte: ein Beitrag zur digitalen Narratologie. Berlin, Boston: de Gruyter.
  • Hansen, Per Krogh (2000): Karakterens rolle: aspekter af en litterær karakterologi. Holte: Medusa.
  • Jacke, Janina (2014): „Is There a Context-Free Way of Understanding Texts? The Case of Structuralist Narratology“. In: Journal of Literary Theory. 8 (1), 118–139. DOI: 10.1515/jlt-2014-0005.
  • Jannidis, Fotis (2012): „Character“. In: Peter Hühn; Jan Christoph Meister; John Pier und Wolf Schmid (Hrsg.): the living handbook of narratology. Hamburg: Hamburg University. URL: https://www.lhn.uni-hamburg.de/node/41.html [Zugriff: 30.4.2020].
  • Margolin, Uri (1983): „Characterisation in Narrative: Some Theoretical Prolegomena“. In: Neophilologus. 67, 1–14. DOI: 10.1007/BF01956983.
  • Margolin, Uri (1990): „Individuals in Narrative Worlds: An Ontological Perspective“. In: Poetics Today. 11 (4), 843–871. DOI: 10.2307/1773080.
  • Modrow, Lena (2016): Wie Songs erzählen. Eine computergestützte, intermediale Analyse der Narrativität. Frankfurt am Main: Peter Lang.
  • Propp, Vladimir (1975): Morphologie des Märchens. München: Hanser.
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