Digitale Editionen

1. Definition

Digitale Editionen machen historische Dokumente für ein breites (wissenschaftliches) Publikum verfügbar und bilden damit die Basis für weitere Untersuchungen. Grundsätzlich können neben Textdokumenten auch kulturelle Artefakte in anderen medialen Formen wie audiovisuelle Medien oder bildnerische Objekte zum Gegenstand von Editionen werden. In der Literaturwissenschaft liegt der Fokus allerdings auf der Edition historischer Drucke und Handschriften. Sie werden in digitalen Editionen als digitale Faksimiles sowie als maschinenlesbare Transkripte repräsentiert und mit weiteren Informationen zu Überlieferung, relevanten Entitäten, Inhalten und/oder materiellen Besonderheiten angereichert. Die Bereitstellung erfolgt heutzutage zumeist über ein Online-Portal, wo die Dokumente im Open Access direkt rezipiert sowie (annotierte) Transkriptionen und Metadaten heruntergeladen werden können. Digitale Editionen sind nicht mit digitalen Repositorien zu verwechseln, die in der Regel nur einen maschinenlesbaren Text ohne Anbindung an die Überlieferung zur Verfügung stellen und nur wenig bis keine weiteren Informationen zum Text geben.

Editionen sind immer gleichzeitig Ergebnis wissenschaftlicher Arbeit und Basis für weitere Forschung. Um beide Perspektiven geht es im Folgenden.

2. Anwendungsbeispiel

Sie möchten Briefkorrespondenzen zwischen Künstler*innen um 1900 untersuchen und ein entsprechendes Korpus erstellen – ein Ressourcentyp, der Ihnen Zugang zu wissenschaftlich valide aufbereiteten Texten gibt, sind digitale Editionen. Für das genannte Forschungsinteresse können Sie verschiedene Editionen kombiniert als Quellen nutzen, beispielsweise Arthur Schnitzlers Briefwechsel mit Autorinnen und Autoren, die Edition zu den Materialien um die Avantgarde-Zeitschrift DER STURM und das Portal Dehmel digital[Link auf Artikel]. Auf diesen Portalen können Sie beispielsweise über facettierte Suchen, durch Recherche im Register der erwähnten Personen, Orte, Werke und Organisationen oder über grafische Visualisierungen für Ihr Forschungsvorhaben relevante Texte auswählen. Weiterhin stehen dort  Einzeldokumente für eine Detailansicht zur Verfügung.

Sollten Sie nicht nur mit einer bereits bestehenden digitalen Edition arbeiten, sondern selbst eine erstellen wollen, wenden Sie dabei, je nach Ausgangsmaterial und gewünschten Features, verschiedene Methoden an. Bei der Digitalisierung der analogen Dokumente kommen beispielsweise Varianten der Textdigitalisierung, der digitalen Manuskriptanalyse sowie zur weiteren inhaltlichen Aufbereitung manuelle Annotation oder Named Entity Recognition zum Einsatz.

3. Literaturwissenschaftliche Tradition

Die Editorik als Praxis des Herstellens zuverlässiger Textgrundlagen für die anschließende wissenschaftliche Rezeption hat eine lange Tradition, die bis in die disziplinären Anfänge der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert zurückreicht. Editionen wurden zunächst von antiken und mittelalterlichen Texten angefertigt, die oftmals in vielen leicht voneinander abweichenden Fassungen überliefert sind. Ein Schwerpunkt der editorischen Arbeit lag deshalb auf dem Fassungsvergleich, um eine Annäherung an einen angenommenen ‘Urzustand’ des Textes zu erreichen. Mit zunehmender Relevanz moderner Texte für die historische und literaturwissenschaftliche Forschung verschob sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch der editorische Fokus. Neben die differenzierte Aufschlüsselung der Überlieferung eines Textes rückte zunehmend die Textgenese sowie die dabei entstandenen Notizen, Entwürfe, und Reinschriften des*der Autors*Autorin in den Blick (vgl. Plachta 2020, 28-53). Auch hierbei ging und geht es bis heute weiterhin um eine textkritische Dokumentation des textuellen und materiell-medialen Befunds, der nach Möglichkeit von der Deutung der vorgefundenen Phänomene getrennt werden soll, auch wenn dies nicht immer vollständig möglich ist (vgl. Zeller 1971).

Zur Repräsentation von Überlieferungsgeschichten, Textgenesen und der Beziehung von Textfassungen und Varianten wurden von vornherein grafische Visualisierungen und diagrammatische Formen wie Baumdiagramme und Tabellen eingesetzt, wie sie heute vielfach in den DH üblich sind. Die Erschließungstiefe und der Umfang der Dokumentation und informativen Anreicherung einer Edition kann sehr unterschiedlich ausfallen. Im Laufe der Zeit haben sich drei archetypische Editionstypen herausgebildet, zwischen denen in der editorischen Praxis allerdings viele Mischformen bestehen (vgl. Plachta 1997, 11-26). Die (i) historisch-kritische Edition (HKA) richtet sich an ein wissenschaftliches Expert*innenpublikum. Sie erhebt den Anspruch, neben der Publikation eines zuverlässigen Texts auch den Zustand der Textgenese und/oder Überlieferung vollständig abzubilden, die Beziehungen zwischen den Dokumenten aufzuschlüsseln, deren jeweilige Authentizität und Position im Werk kritisch zu beleuchten sowie den aufgrund der Historizität der Texte bestehenden Verständnisschwierigkeiten durch gezielte Kommentierung zu begegnen. Ein Derivat der HKA stellt die (ii) Studienausgabe dar. Sie enthält ebenfalls zentrale textkritische und inhaltliche Erläuterungen, ist aber vorrangig auf den Gebrauch z. B. im Rahmen des Studiums ausgerichtet. Die einfachste Form bildet die (iii) Leseausgabe, die vor allem einen textkritisch geprüften, zuverlässigen Text enthält und auf weitere Informationen verzichtet. Im Idealfall können die drei genannten Editionstypen auseinander abgeleitet werden. Aus dieser Vorstellung hat sich im Rahmen der digital hergestellten Edition das heute etablierte Konzept des Single Source Publishing entwickelt, bei dem unterschiedliche Editionstypen ohne großen technischen Mehraufwand aus derselben Datenquelle erzeugt werden können (vgl. Sahle 2016, 32). In der im Internet publizierten Edition ist die Entscheidung darüber, wie viele und welche Informationen einem Dokument beigegeben werden können, nicht mehr durch materiell-mediale Erwägungen beschränkt, sondern hängt maßgeblich vom editorischen Konzept und den zur Verfügung stehenden Ressourcen ab.

4. Diskussion

Im Vergleich zu analogen Editionen bieten digitale Editionen einige Vorteile. Sie sind  zeit- und ortsunabhängig nutzbare, zuverlässige Repräsentationen von Primärquellen, die allen Interessierten die Analyse wertvoller, empfindlicher und/oder sonst nicht ohne weiteres zugänglicher Dokumente ermöglichen. Digitale Editionen sind in der Regel kostenlos zugänglich und Sie müssen die Texte nicht selbst digitalisieren, um verschiedenste digitale Methoden darauf anwenden zu können. Zudem können digitale Editionen deutlich größere Bestände handhabbarer fassen als eine Printedition, sind nicht an eine einzelne Ordnungsstruktur gebunden, sondern können leichter verschiedene Perspektiven auf das Material anbieten, und sind nachträglich erweiter- und korrigierbar (vgl. Nutt-Kofoth 2016, 577–579, Fritze 2022). Diese Flexibilität impliziert aber auch potenzielle Schwierigkeiten bei der Zitation sich dynamisch wandelnder Inhalte, ein Problem, das jedoch nicht nur digitale Editionen betrifft: Allgemein sollte, so Föhr (2019), die Frage der Validität von und Kritik an Quellen aus dem Internet verstärkt in Studium und Forschung thematisiert werden. Bei digitalen Editionen gibt idealerweise ein Dokumentationsbereich des Portals Aufschluss über die Einhaltung wissenschaftlicher Standards, anhand derer Sie sich ein Bild machen können: Jede Edition sollte Editionsrichtlinien und eine Dokumentation enthalten, in denen Verarbeitungsschritte und Entscheidungen für oder gegen eine bestimmte Darstellung transparent vermittelt werden und erläutert wird, woher die Primärquellen stammen. Gute Editionsrichtlinien machen auch Lücken in der Erschließung transparent. Für die Zitation digitaler Editionen haben sich zwar noch keine einheitlichen Standards herausgebildet, allerdings beinhalten die meisten digitalen Editionen einen Zitiervorschlag, auf den Sie zurückgreifen können. Weitere Kriterien, anhand derer Sie digitale Editionen beurteilen können, finden Sie bei Sahle et al. (2014).

Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass technische Standards und Praktiken im stetigen Wandel sind: Anders als gedruckte Bücher veralten digitale Portale und können schlimmstenfalls nicht mehr nutzbar sein, wenn Nachnutzbarkeit im Projekt nicht ausreichend mitbedacht wurde. Diese Problematik wird im Manifest für digitale Editionen (Fritze 2022) u. a. darauf zurückgeführt, dass die zeitlich begrenzte Organisation und Finanzierung von Editionsvorhaben in wissenschaftlichen Projekten in Konflikt steht zur konzeptuellen Offenheit und Erweiterbarkeit digitaler Editionen.

Für die Nutzung digitaler Editionen spricht außerdem, dass sie meistens eine digitale Volltextsuche ermöglichen. Auf diese Weise gelangen Sie zügig zu den Dokumenten, die für Sie interessante, individuell wählbare Schlagworte enthalten. Viele digitale Editionen bieten zudem facettierte Suchen an. Auf diese Weise lassen sich große Textkorpora gezielt, also je nach individueller Forschungsfrage, innerhalb eines ausgewählten Zeitraums oder auf Grundlage weiterer flexibel kombinierbarer Parameter durchsuchen. Beide Suchoptionen unterstützen Sie beim Auffinden von Dokumenten, bei denen sich ein Close Reading für Sie lohnt (vgl. Baillot 2020, 392), und bei der gezielten Zusammenstellung eines Korpus, das für die Analyse und die Beantwortung Ihrer Untersuchungsfrage relevante Dokumente enthält. Letztere können Sie je nach Edition in unterschiedlichen Formaten wie XML oder PDF herunterladen. Einige digitale Editionen bieten zudem den Zugang über eine API an, über die der Gesamtbestand heruntergeladen werden kann. Nicht alle Downloadformate sind kompatibel mit weiteren Tools und Methoden der digitalen Textanalyse. Es kann also sein, dass Sie die heruntergeladenen Daten nach dem Download für weitere Analyseschritte anpassen müssen.

Editionen eröffnen stets einen neuen Zugang zum edierten Ausgangsmedium. Während dessen textuelle Ebene in digitale Volltexteditionen übertragen werden kann, verändert sich der materielle Zugang (vgl. Altenhöner et al. 2014, 789), was durch Faksimiles und die Anreicherung mit weiteren Informationen zur Überlieferung und zum Zustand der Dokumente in Annotationen, Metadaten und/oder Kommentaren in Teilen ausgeglichen werden kann. Eine digitale Edition kann in diesem Zusammenhang allerdings mit der Bereitstellung weiterer, alternativer Zugänge zum Material aufwarten. Mit den Dokumenten verlinkte Personennetzwerke (Dehmel digital), Wortwolken (Schlegel Edition), Visualisierung von Schritten der Textgenese (Faustedition) sowie Figurenauf- und Abtritten (Ödön von Horváth Digitale Edition) oder Landkarten schaffen Alternativen zum Einstieg über Suchfacetten, bieten alle Vorteile der → Textvisualisierung und ermöglichen neue Perspektiven auf die Ausgangsdokumente.

Wichtiger Bestandteil aller Editionen sind Register: alphabetische Verzeichnisse wichtiger Einheiten. Während die Zusammensetzung (chronologische Auflistungen aller Personen, Orte, Werke und Körperschaften) und die Funktion der Register (Strukturierung des Materials) von digitalen und analogen Editionen sich nicht grundsätzlich unterscheiden und auch in der Handhabung ähnlich sind, werden Register digitaler Editionen in der Regel zusätzlich mit Verlinkungen auf Einträge in #Normdatenbanken angereichert: Hier sind weitere wissenschaftlich valide Informationen zu Personen, Orten oder Körperschaften gespeichert. Ist eine bestimmte Person also mit einem Eintrag in einer Normdatenbank verlinkt, gilt ihre Identität als eindeutig verifiziert. Darüber hinaus lassen sich digitale Editionen miteinander verlinken. Der Webdienst correspSearch ermöglicht die gleichzeitige Recherche in allen affiliierten Briefeditionen und gewährleistet eine editionsübergreifende Recherche, die dem Netzwerkcharakter vieler Korrespondenzen gerechter wird als der klassische Fokus auf die Briefe von ein und derselben Person (vgl. zu Verknüpfung mittels Kalliope, Normdaten und der Kooperation von Archiven/Bibliotheken und Forschenden Weber 2013). Eine derartige Verknüpfung, die flexibel neu erscheinende Editionen aufnehmen und zugänglich machen kann, und generell die Möglichkeit von Anpassungen in der Edition, ist innerhalb von Printausgaben nur mit dem Zusatzaufwand neuer Auflagen zu leisten. Dies ist auch ein Schritt zur Lösung des Problems der Sichtbarkeit digitaler Editionen: Damit Sie sie nutzen können, müssen Sie sie erst einmal finden. Bislang sind digitale Editionen meist nicht in regulären Bibliothekskatalogen verzeichnet und unterschiedlich gut über Suchmaschinen auffindbar. Sie können jedoch im Catalog of Digital Scholarly Editions (Sahle et al. 2020) recherchieren, der zahlreiche digitale Editionen und Editionsplattformen versammelt. Eine editionsübergreifende metadatenbasierte Recherche in Briefeditionen ermöglicht neben correspSearch auch der Kalliope Verbundkatalog. Archive, Bibliotheken, Museen und andere Einrichtungen (insgesamt Bestände aus über 950 Einrichtungen) hinterlegen hier u. a. Metadaten zu Korrespondenzen.

5. Technische Grundlagen

Für die Nutzung einer digitalen Edition benötigen Sie in der Regel keine technischen Vorkenntnisse, denn die Graphical User Interfaces (GUIs) der meisten Editionen sind intuitiv nutzbar. Die edierten Dokumente werden auf der projekteigenen Homepage häufig synoptisch dargestellt (Faksimile neben Reintextfassung). Um eine effiziente facettierte Suche umzusetzen, ist manchmal eine bestimmte Syntax notwendig, die in der Regel aber erklärt wird.

Um Programmierschnittstellen (APIs) für den Download aller Dokumente einer Edition nutzen zu können, kann technisches Vorwissen notwendig sein. Grundkenntnisse zu TEI-XML sind ebenfalls oft hilfreich, um aus einer digitalen Edition Ihr individuelles Textkorpus extrahieren und Daten aus verschiedenen Quellen aneinander angleichen zu können.

Sollten Sie nicht nur bereits bestehende digitale Editionen nutzen, sondern eine eigene erstellen wollen, müssen Sie sich dazu mit ganz unterschiedlichen konzeptionellen Fragen und digitalen Methoden auseinandersetzen, die im folgenden Teil kurz vorgestellt werden (vgl. zu einem beispielhaften Abriss, wie ein Arbeitsablauf digitalen Edierens aussehen kann, Bläß et al. 2022 und Nantke et al. 2022).

Die Textauswahl für digitale Texteditionen wird von mehreren Faktoren beeinflusst. Hierzu zählen beispielsweise urheberrechtliche Erwägungen, die Projektausrichtung und/oder förderpolitische Faktoren. Die fokussierte Textsorte sowie der Überlieferungszustand der Dokumente haben wiederum Einfluss auf die editorische Vorgehensweise sowie die Repräsentation auf dem Portal. Auch die Methoden unterscheiden sich je nach Zielen und (personellen, finanziellen und zeitlichen) Ressourcen des Projekts, in dem die digitale Edition entsteht. Es besteht zum einen die Möglichkeit, ausschließlich Scans plus Metadaten und Kommentar anzubieten; es gibt auch Editionen, die Volltexte ohne Faksimiles veröffentlichen. Im Weiteren beziehen wir uns vor allem auf Volltexteditionen mit Faksimiles, die sich mittlerweile als Standard der digitalen Edition weitgehend etabliert haben. Auch in diesem Zusammenhang werden viele Briefeditionen hauptsächlich manuell erstellt. Das bedeutet: Das Dokument wird manuell #transkribiert. Dies kann erstens per Keying/Double Keying in Textverarbeitungsprogrammen, zweitens mit dafür vorgesehenen Tools wie Transcribo oder Transkribus oder direkt in einem Editor in TEI-XML geschehen. Die → manuelle Annotation der Transkripte beinhaltet zum einen Dokumenteneigenschaften und textkritische Merkmale wie Stiftwechsel, Durchstreichungen, die Textausrichtung oder, wenn mehrere Fassungen eines Textes vorliegen, variante Schreibweisen. Zum anderen beziehen sich die Annotationen auf inhaltliche Angaben.  So werden z. B. bei Briefeditionen alle im Brief erwähnten Orte, Werke, Personen und Organisationen ausgezeichnet, sodass diese anschließend in Register übertragen werden können, die wiederum auf die Dokumente rückverlinken. In diesen Fällen sind die digitalen Editionen stark dem Druckparadigma verhaftet (vgl. Klug 2021) und unterscheiden sich bezüglich Layout, Aufbau und Nutzung kaum von analogen Editionen.

Alternativ zu dieser manuellen Vorgehensweise können Sie Verfahren des maschinellen Lernens wie Handwritten Text Recognition (beispielsweise mittels Transkribus oder OCR4all) oder Named Entity Recognition (z.B. mithilfe des Stanford Named Entity Recognizers) anwenden, um das Material editorisch zu erschließen. Darüber hinaus können Sie die spezifischen Möglichkeiten einer digitalen Umsetzung nutzen, indem Sie bspw. grafisch-visuelle Zugänge zum Bestand schaffen (bspw. über eine Netzwerkvisualisierung) und/oder Daten aus unterschiedlichen Quellen zusammenführen und miteinander verlinken. Sowohl die manuelle als auch die teilautomatisierte Vorgehensweise bedingt die Auseinandersetzung mit TEI-XML (siehe auch: https://tei-c.org), dem Auszeichnungsstandard für digitale Editionen. XML-Dateien können Sie in verschiedenen Freeware-Texteditoren wie Notepad++ oder EMACS bearbeiten, für eine langfristigere und regelmäßige Nutzung kann sich jedoch auch Software mit zusätzlichen Features lohnen, beispielsweise der Oxygen-XML-Editor. Für diesen gibt es außerdem die an die Erstellung digitaler Editionen angepasste Arbeitsumgebung ediarum.

Je nach methodischer und inhaltlicher Schwerpunktsetzung unterscheiden sich Erschließungsbreite (der Gesamtumfang der in einer Edition repräsentierten Dokumente) und Erschließungstiefe (die Genauigkeit der Auszeichnung) bei manuellem und teilautomatischem Vorgehen: Editionen, bei denen ausschließlich manuell gearbeitet wird, sind in der Regel weniger umfangreich, da manuelles Transkribieren und Annotieren sehr zeitaufwändige Verfahren sind. Digitale Editionen dieser Art sind oft sehr genau ediert, da der Mensch bestimmte Schreibweisen oder Sinnzusammenhänge besser versteht als ein Computer. Dieses Vorgehen ist der editorische Standardfall. Editionen, bei denen Formen des maschinellen Lernens eingesetzt werden, können einen erheblich größeren Textbestand erfassen, da computationelle Methoden wie → NER die Aufbereitung eines umfangreichen, potenziell grenzenlosen Datenbestandes ermöglichen, der mit manueller Herangehensweise nicht mehr (oder nur unter erheblichem Personal- und/oder Zeitaufwand) handhabbar wäre. Diese digitalen Editionen sind tendenziell weniger genau, da algorithmische Verfahren zum jetzigen Zeitpunkt oft Schriften und Entitäten nicht komplett fehlerfrei erkennen (vgl. Nantke et al. 2022). Eine algorithmengestützte Editionspraxis zieht daher auch Kritik auf sich, da ein einseitiger Fokus auf innovative Technologien auf Kosten der inhaltlichen Qualität befürchtet wird (Rieger 2021).

Wenn Sie die unterschiedlichen Entitätentypen – Personen, Orte, Körperschaften und Werke – innerhalb Ihres für die digitale Edition vorgesehenen Textbestands (manuell oder automatisiert) digital annotiert haben, werden diese i. d. R. disambiguiert. Ein Tool, das die teilautomatisierte Beseitigung von sprachlichen Mehrdeutigkeiten (wenn z. B. „R.D.”, „Richard Dehmel” und „Ri. Deh.” immer als „Richard Dehmel” im Register gelistet werden sollen) ermöglicht, ist bspw. OpenRefine. Über die „reconciliation”-Funktion können Sie dort auch die Vernetzung mit Normdaten vornehmen, da das Tool Schnittstellen zu unterschiedlichen Normdatenbanken wie Wikidata, der GND oder dem Getty Thesaurus of Geographic Names unterstützt.

Abgesehen von unterschiedlichen methodischen Schwerpunkten, die jedes Editionsprojekt selbst setzt, haben sich Standards etabliert, deren Einhaltung als gute wissenschaftliche Praxis gilt. Die 2016 eingeführten und interdisziplinär etablierten FAIR Guiding Principles for scientific data management and stewardship bilden die Grundlage für die Nachnutzung von Forschungsdaten und dienen auch digitalen Editionen als Bezugsrahmen (Stigler 2021): Sind die Daten auffindbar (Findable), zugänglich (Accessible), interoperabel (Interoperable, dazu zählt auch Bereitstellung der Dokumente in validem XML-Format und die Auszeichnung nach den Standards der Text Encoding Initiative (TEI)) und wiederverwendbar (Reusable), spricht das für eine digitale Edition mit hohen Qualitätsstandards. Es fehlen bislang jedoch einheitliche Standards für die Metadatenerfassung (vgl. Baillot 2020, 388).

6. Nachweise

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Weiterführende Links

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